Wahlrechtsfragen sind Machtfragen. Nicht selten steht ihre Auflösung zugunsten der eigenen politischen Überzeugung im Fokus der politischen Akteure, die miteinander um Handlungs- und Gestaltungsmacht konkurrieren. Dieser Eindruck konnte jüngst wieder mit Blick auf das aktuelle Reformbestreben in Sachen Wahl des Europäischen Parlamentes gewonnen werden, auf das sich das Europäische Parlament im vergangenen Jahr hat einigen können.
Aus diesem Grund hat sich der Schwerpunktbereich 6 „Recht der Politik“ im Rahmen eines dreitägigen Seminars vom 24.01 bis zum 26.01 unter der Leitung von Dr. Heike Merten, Geschäftsführerin des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRUF), in die Machtzentrale der Europäischen Union nach Brüssel begeben, um im Europäischen Parlament partei- und fraktionsübergreifend mit Entscheidungsträgern (kritisch) über das aktuelle Reformvorhaben zu diskutieren und einen Einblick in den Prozess der politischen Willensbildung auf europäischer Ebene zu gewinnen.
Die Eckpunkte des Reformvorhabens wurde den Studierenden von Damian Boeselager, MdEP (VOLT) skizziert. Als Verhandlungsführer seiner Fraktion THE GREENS/EFA war er maßgeblich an den Verhandlungen und der Kompromissfindung beteiligt, die er als historische Errungenschaft bezeichnet, deren Auswirkungen auf die Bürgerinnen und Bürger der Europäischen Union nicht unterschätzt werden dürften. Konkret schlägt das Europäische Parlament etwa vor, einen (Bruch)Teil seiner Mitglieder über eine einheitliche europäische Liste zu wählen, also eine „echte“ europäische Zweitstimme einzuführen; das Wahlalter auf 16 Jahre festzusetzen und einheitliche Regelungen in Bezug auf die Wahlzulassung (Registrierung einer Partei, Anmeldung zu Wahlen und Modus der Kandidatenaufstellung) festzulegen. Schließlich ist im Reformvorschlag noch eine 3,5%-Sperrklausel enthalten, der er nur schmerzlich zugestimmt habe, obwohl er darin eine Verletzung der „Wahlrechtsgleichheit der Unionsbürger“ sehe.
Im Anschluss bot Martin Sonneborn, MdEP (DIE PARTEI) den Studierenden einen Blick „Hinter die Kulissen“ seiner Arbeit als Mitglied des Europäischen Parlamentes, die sich durchaus von der Arbeit seiner Kolleginnen und Kollegen vor Ort unterscheiden mag. Als fraktionsloses Mitglied des Europäischen Parlamentes sind seine Möglichkeiten, wirkungsvoll und sachbezogen am Prozess der politischen Willensbildung teilzunehmen, abgeschwächt. Dieses Minus vermögen auch seine öffentlichkeitswirksamen 60 Sekunden Reden im Plenum nicht vollständig auszugleichen, wenngleich sie – auch den Studierenden – jedenfalls ein Schmunzeln verschafft haben.
Nach einer Führung durch das Parlamentsgebäude und dem Besuch des Plenarsaals ermöglichte Kursteilnehmer Justus Kühbacher mit seinem Vortrag „Das Europäische Wahlrecht im Stimmgewirr der Nationen“ beim Abendessen im Europäischen Parlament, einen vertieften juristischen Einblick in die Regelungen des Europäischen Wahlrechts.
Der zweite Tag begann für die Studierenden bei der Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS). Dr. Olaf Wientzek, Leiter des Multinationalen Entwicklungsdialogs der KAS in Brüssel und Jonas Nitschke, Referent für Democracy und Governance, stellten ihre Arbeit in Brüssel und den EVP-Parteienbarometer vor, der mehrmals im Jahr von Dr. Wientzek erstellt und veröffentlicht wird und in dem die Stärke der europäischen Parteienfamilien in aktuellen Umfragen – mit besonderem Schwerpunkt auf die EVP – dargestellt werden.
Im Gespräch mit Johannes Volkmann (CDU) erhielten die Studierenden einen anderen, den „konservativen“ Blick auf das Reformvorhaben. So plädierte Volkmann energisch für die Einführung einer 3,5%-Sperrklausel, um stabile Mehrheiten im Europäischen Parlament sicherzustellen, einer „Weimarisierung“ vorzubeugen und damit die Zersplitterung des Parlamentes zu verhindern. Zudem sei auch die Absenkung des Wahlalters auf 16 Jahre und die Trennung der Altersbestimmung für das aktive und passive Wahlrecht eher kritisch zu sehen.
Fabian Pescher (SPD), Referent der Vizepräsidentin des Europäischen Parlamentes Dr. Katarina Barley, legte in einem sehr interessanten Vortrag nicht nur das Wahlrechtsreformvorhaben aus der Legislatur 2014 - 2019 dar, an dessen Ausarbeitung er federführend mitgewirkt hat, sondern komplementierte das theoretische Wissen der Studierenden über den Prozess der Willensbildung auf europäischer Ebene eindrücklich mit persönlichen Erfahrungen „aus der Praxis“.
Kursteilnehmer Gillian Kittelberger referierte zur „EP-Sperrklausel vor dem Bundesverfassungsgericht“ und warf u.a. Schlaglichter auf die Urteile des Bundesverfassungsgerichts aus den Jahren 1979, 2011 und 2014. Schließlich berichtete Dustin Hoffmann (DIE PARTEI) über die Klage von DIE PARTEI vor dem Bundesverfassungsgericht gegen die Ratifikation der 2018-EU-Wahlrechtsreform, die der Deutsche Bundestag und der Deutsche Bundesrat im Sommer 2023 beschlossen haben.
Mit vielen neuen Erkenntnissen und Eindrücken ausgestattet, blicken die Studierenden in fachlicher wie persönlicher Hinsicht auf drei ereignisreiche Tage zurück. Anregende Diskussionen und interessante Gesprächspartner haben das Seminar zu einer nachhaltig lehrreichen Erfahrung werden lassen. Unser herzlicher Dank gilt Dustin Hoffmann, der die Programmplanung übernahm sowie unseren Gesprächspartnern vor Ort, die geduldig und mit großem Interesse alle Fragen aus den Reihen der Studierenden beantworteten. Selbst das diesige Wetter am Abreisetag und der nervenaufreibende Bahnstreik konnte die Studierenden nicht davon abhalten, gemeinsam die Stadt zu erkunden und mit großer Begeisterung auf die arbeitsintensiven Tage zurückzublicken!