Am 23. und 24. April 2024 fand die mündliche Verhandlung des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts in Sachen „Bundeswahlgesetz 2023“ in Karlsruhe statt. Die Verhandlung bescherte dem Verfassungsgericht ein selten volles Haus. Prof. Dr. Sophie Schönberger, Inhaberin des Lehrstuhls für Öffentliches Recht, Kunst- und Kulturrecht an der Heinrich-Heine-Universität Düsseldorf sowie Co-Direktorin des Instituts für Deutsches und Internationales Parteienrecht und Parteienforschung (PRUF), vertrat als Verfahrensbevollmächtigte die Bundesregierung.
Den Hintergrund bildet die Wahlrechtsreform der Ampel-Koalition, die vorsieht, dass ein Wahlkreiskandidat nur dann gewählt ist, wenn sein Platz auch von dem Zweitstimmergebnis seiner Partei gedeckt ist. Im selben Zuge beschloss der Gesetzgeber, auch die Grundmandatsklausel, die abweichend von der 5%-Hürde den Einzug in den Bundestag gewährte, wenn eine Partei mindestens drei Wahlkreismandate gewinnen konnte, zu streichen.
Gegen diese Reform wandten sich die Bayerische Staatsregierung und 195 Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag in zwei Normenkontrollverfahren, die Partei CSU und DIE LINKE. sowie die ehemalige Fraktion DIE LINKE. im Bundestag im Organstreitverfahren sowie mehr als 4.000 Privatpersonen durch zwei Verfassungsbeschwerden. So galt es, an zwei Tagen über sieben Verfahren zu verhandeln. Allmählich bekomme man einen unmittelbaren Eindruck davon, was es heiße, wenn viele zu Wort kommen wollten, stellte Bundesverfassungsrichterin und Berichterstatterin Astrid Wallrabenstein am ersten Verhandlungstag fest.
Formell gerügt wurde besonders von der CSU und der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag, dass das Gesetzgebungsverfahren über die Streichung der Grundmandatsklausel „überstürzt“ erfolgte und so den Abgeordneten keine hinreichende Zeit für eine Folgenabwägung geblieben sei. Das Gericht muss sich zuerst mit der Frage auseinandersetzen, ob Parteien und Fraktionen Abgeordnetenrechte im Organstreit geltend machen können und dann, ob die ehemalige Fraktion DIE LINKE. im Bundestag ein Rechtsschutzbedürfnis hat.
Wahlrechtsfragen sind Machtfragen
Materiell ging es um die Gleichheit und Unmittelbarkeit der Wahl. Die Antragsteller trugen vor, dem Gesetzgeber seien Grenzen gesetzt, wenn er eine weitgehende Wahlrechtsreform beschließe, die über die Wahlrechtsgrundsätze des Art. 38 Abs. 1 GG hinausgingen. Er brauche dafür einen sachlichen, triftigen oder zwingenden Grund, der hier nicht vorliege.
Die Unmittelbarkeit der Wahl sei dahingehend verletzt, dass es dem Wähler nicht mehr möglich sei, abzusehen, welchen Einfluss seine Abgabe der Erststimme habe. Die Unmittelbarkeit der Wahl umfasse also mehr als das Verbot des Dazwischenschaltens einer Instanz mit eigener Entscheidungskompetenz.
Viel lebhafter diskutiert wurde unter dem Stichpunkt der Zweitstimmendeckung über die mögliche Verletzung der Gleichheit der Wahl sowie der Chancengleichheit der Parteien. Der Senat beschäftigte sich damit, ob sich bei der Kappung der Erststimmen um einen Eingriff in die Gleichheit der Wahl handelt und ob dieser gerechtfertigt ist. Die Antragsteller ermahnten den Senat, nicht dem „Narrativ“ des Gesetzgebers zu glauben, bei der Erststimme handele es sich nicht mehr um eine Wahl, sondern nur um eine Priorisierung. Vehement wurde zudem vorgetragen, die Nichtberücksichtigung der besonderen Verhältnisse der CDU und CSU sei ein tiefer Eingriff in die Chancengleichheit der CSU.
Der Bundestag sei zudem entgegen den Mahnungen zur Verkleinerung im Großen und Ganzen arbeitsfähig, weshalb ein Eingriff nicht mit der Funktionsfähigkeit des Parlaments zu rechtfertigen sei. Vergleiche zum chinesischen Volkskongress gingen fehl, da Deutschland eine geringere Bevölkerung habe.
Ein noch umstrittener Aspekt der Reform stellte die Frage um die Streichung der Grundmandatsklausel bei unveränderter Beibehaltung der 5%-Hürde dar. Zu klären ist, ob die Sperrklausel noch gerechtfertigt und ob die Streichung der Grundmandatsklausel als Gegenausnahme zur 5 %-Hürde möglich ist.
Prof. Dr. Schönberger: „Gleicher geht es nicht!“
Prof. Dr. Schönberger trug seitens der Bundesregierung vor, dass die Wahlrechtsreform 2023 verfassungsrechtlich nicht zu beanstanden sei. Weder hätten die Abgeordneten aufgrund mangelnder Komplexität zu wenig Zeit, um die Streichung der Grundmandatsklausel zu beraten, noch sei der Gesetzgeber bei Änderungen im Wahlrecht an strengere Maßstäbe als die Wahlrechtsgrundsätze gebunden. Betreffend die Unmittelbarkeit der Wahl bedeute dies nur das Verbot des Dazwischenschaltens einer Instanz mit eigener Entscheidungskompetenz. Da nach dem neuen Wahlrecht Wahlkreiskandidaten nicht mehr direkt gewählt würden, wenn sie die relative Mehrheit errängen, handele es sich dabei nicht mehr um eine Wahl, sondern lediglich um eine Priorisierung. Das alte Wahlrecht könne in keinem Fall als Vergleichsgruppe herangezogen werden. Es bedürfe einer Vergleichsgruppe allein nach dem neuen Wahlrecht, die nicht zu finden sei. Das Wahlrecht gelte für alle gleich. Auch wenn ein Eingriff vorliege, liege es in der Einschätzung des Gesetzgebers, zu bestimmen, ob eine Funktionsunfähigkeit des Parlaments drohe. Das Wahlrecht müsse sich zudem nicht an die Parteien anpassen, sondern die Parteien an das Wahlrecht.
Was die Sperr- und Grundmandatsklausel betrifft, stellte sie fest, dass die Sperrklausel nun für alle Parteien gleich gelte, weshalb darin keine rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung vorliege.
Entscheiden muss das Bundesverfassungsgericht schnell, denn schon Ende Juni beginnt die Frist für die Aufstellung der Wahlkreisbewerber. Dem Gericht sind diese Fristen bekannt, manch einer Politiker ließ es sich aber nicht nehmen, in der Verhandlung auf die Eilbedürftigkeit hinzuweisen. So bat der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz das Gericht, „relativ schnell“ zu entscheiden, damit der Bundestag noch vor der nächsten Wahl ein neues Wahlgesetz beschließen könne. Die Pressemitteilung des Gerichts sowie die Verfahrensgliederung samt Aktenzeichen kann auf der Webseite des Bundesverfassungsgerichts abgerufen werden.